336. The Judgement of God / Das Gottesurteil

In one of the wildest alps of the Schilzbach valley, two inhabitants of the area, who had been angry with each other for a long time, once came together unexpectedly. Soon a quarrel broke out between them, and they became hand to hand. The stronger one killed the weaker one and threw him down into a deep ravine. Soon they were looking for the missing man. Murder was not on their minds, so they were not looking for a murderer. But the murderer was frightened; he feared discovery and found it advisable to make himself invisible. He took hand money and remained missing for a long, long time. Soon the grass grew over what had happened.

One late autumn day, a tall, broad-shouldered man was seen walking steadily from the Raischeibenbergweg up the Hakensträschen. His hair and beard, heavily greying, indicated his old age. Passing under the ruins of Gräplang Castle, he soon reached the footbridge that led across the Schilzbach. From there he saw something swimming down the water. It was a bald human skull. The stranger quickly bent down from the footbridge and caught it. Without a second thought, he knew nothing more urgent than to bring the strange find to the priest, who would know what to do with it.

The priest said: “Since the Schilz brought the skull, the former owner must also have lost his life in the area of the Schilzbach and, as I hope, by accident, not by murder. But if the latter is the case, the murderer will have to be discovered. I will take the skull to church next Sunday. After the end of the service, I will display it publicly at the front, where the nave and choir meet, and let the adult male population walk through the church. Everyone must touch the skull as they pass, and he at whose touch it begins to bleed will be the culprit.”

So it happened; what the chaplain demanded was obeyed without protest. No blood came out, and the honour of the congregation was preserved. Then a loud voice cried out, “One is still there who has not made the passage; he has to do as we have done!” It was retorted, “There is no need; surely the stranger would not have picked up the skull and brought it if he were the murderer!” They persisted in their desire. The stranger approached the skull with hesitant steps and shuddered at its touch; pale as a corpse he swayed sideways when he saw copious amounts of blood flowing from it. Horrible horror filled the congregation. All eyes were on the bleeding skull and on the discovered murderer. He was arrested and brought before the judge, where he confessed to the crime. The sentence was death by execution with the sword. Now, as an old man, he atoned with his blood for the evil deed he had once committed as a young man.
O. Giger


One evening, a foreign cattle trader came to the village inn in Flums. He ate and drank, sported a lot of cash in front of the guests and revealed that he wanted to go over the Schönbühl into the Glarnerland to buy Welschland cattle. The next morning, he went into the Schilz valley with the heavy money bag around his waist. One of his fellow guests from the previous evening joined him as if by chance; he had business in the alp. At a narrow part of the path, he threw the stranger unawares into the deep, dark ravine. “After 30 years!” it sounded up. The murderer descended in a roundabout way and robbed the shattered corpse lying on the stones.

No one thought of the cattle trader any more. Thirty years later, after a great downpour, a white-washed human skull was found in the village stream. People suspected an unpunished murder, and at a community meeting it was suggested that everyone present should testify to their innocence by placing their right hand on the skull. Everyone did so, only one old man hesitated. When he finally had to do so, three drops of blood appeared on the skull. The murderer confessed his guilt and was executed.
J. B. Stoop


This legend still embodies the old Bahr trial or Bahr law. Before the public court, the murdered person was laid on a bier, and those persons suspected of the crime had to step up and touch the corpse and its wounds with their hands. Certain formulas were spoken. Now God was supposed to give a sign; the wounds were supposed to tremble or even begin to bleed, and the dead person was supposed to change his face colour. If none of this happened, the innocence was proven.

336. Das Gottesurteil

In einer der wildesten Alpen des Schilzbachtales kamen einmal zwei Bewohner der Gegend, die sich schon seit längerer Zeit gram waren, unvermutet zusammen. Bald brach Streit zwischen ihnen aus, und sie wurden handgemein. Der Stärkere erschlug den Schwächeren und warf ihn in ein tiefes Tobel hinunter. Bald suchte man nach dem Vermissten, An Mord dachte man nicht, suchte also auch keinen Mörder. Doch diesem wurde es unheimlich; er fürchtete Entdeckung und fand es für geraten, sich unsichtbar zu machen. Er nahm Handgeld und blieb lange, lange Zeit verschollen. Bald wuchs Gras über dem Geschehenen.

Eines späten Herbsttages sah man einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann festen Schrittes vom Raischeibenbergweg das Hakensträsschen aufwärts wandern. Haar und Bart, stark ergraut, wiesen auf hohes Alter hin. Unter der Schlossruine Gräplang vorbei gelangte er bald an den Steg, der über den Schilzbach führte. Von da aus sah er etwas das Wasser herabschwimmen. Es war ein kahler Menschenschädel. Schnell bückte sich der Fremde vom Stege aus und erhaschte ihn auch. Ohne weiteres Bedenken, wusste er nun nichts Eiligeres zu tun, als den sonderbaren Fund dem Herrn Pfarrer zu überbringen; der werde schon wissen, was damit zu tun sei.

Der Pfarrer sagte: “Da der Schilz den Schädel brachte, muss der frühere Eigner sein Leben auch im Gebiete des Schilzbaches verloren haben und zwar, wie ich hoffe, durch Unfall, nicht durch Mord. Sollte aber letzteres der Fall sein, so wird der Mörder zu entdecken sein. Ich nehme nächsten Sonntag den Schädel mit zur Kirche. Nach, Beendigung des Gottesdienstes stelle ich ihn vorn, wo Schiff und Chor sich berühren, öffentlich aus und lasse die erwachsene männliche Bevölkerung den Gang durch die Kirche machen. Jeder muss beim Vorübergehen den Schädel berühren, und der, bei dessen Berührung er zu bluten beginnt, wird der Täter sein.”

So geschah es auch; was der Seelsorger verlangte, wurde ohne Widerspruch befolgt. Kein Blut kam zum Vorschein, und die Ehre der Gemeinde blieb gewahrt. Da rief eine laute Stimme: “Einer ist noch da, der den Gang nicht gemacht hat; er hat zu tun, wie wir getan!” Es wurde erwidert: “Das ist nicht nötig; der Fremde würde doch nicht den Schädel aufgefangen und gebracht haben, wenn er der Mörder wäre!” Jene beharrten auf ihrem Begehren. Zagenden Schrittes näherte der Fremde sich dem Schädel und erschauerte bei dessen Berührung; leichenblass schwankte er seitwärts, als er diesem reichlich Blut entströmen sah. Grauses Entsetzen erfüllte die Gemeinde. Aller Augen waren auf den blutenden Schädel und auf den entdeckten Mörder gerichtet. Dieser wurde festgenommen und vor den Richter geführt, wo er den Hergang der Tat bekannte. Das Urteil lautete auf Tod durch Hinrichtung mit dem Schwert. Er sühnte nun init seinem Blute als Greis die böse Tat, die er als Jüngling einst verbrochen.
O. Giger


Im Dorfwirtshaus zu Flums kehrte eines Abends ein fremder Viehhändler ein, ass und trank, spiegelte vor den Mitgästen viel bares Geld und offenbarte, er wolle über den Schönbühl ins Glarnerland hinüber, um Welschlandvieh zu kaufen. Am andern Morgen ging er mit der schweren Geldkatze um den Leib ins Schilztal hinein. Einer der Mitgäste vom Vorabend gesellte sich wie zufällig zu ihm; er habe in der Alp zu schaffen. An einer schmalen Wegstelle warf er den fremden Mann unversehens in das tiefe, dunkle Tobel. “Nach 30 Jahren!” tönte es herauf. Der Mörder stieg auf Umwegen hinab und raubte die auf den Steinen liegende zerschmetterte Leiche aus. Niemand dachte mehr an den Viehhändler. Dreissig Jahre später, nach einem grossen Wasserguss, fand man im Dorfbach einen weißgewaschenen Menschenschädel. Man ahnte einen ungesühnten Mord, und es wurde an einer Gemeindeversammlung vorgeschlagen, jeder Anwesende habe seine Unschuld zu bezeugen, indem er seine rechte Hand auf den Schädel lege. Alle taten es, nur ein alter Mann zögerte. Als er es endlich auch tun musste, erschienen an dem Schädel drei Blutstropfen. Der Mörder bekannte seine Schuld und wurde hingerichtet.
J. B. Stoop


Diese Sage verkörpert heute noch die alte Bahrprobe oder das Bahrrecht. Vor dem öffentlichen Volksgericht wurde der Ermordete auf eine Bahre gelegt, und diejenigen Personen, auf welchen der Verdacht ruhte, mussten hinzutreten und mit der Hand den Leichnam und dessen Wunden berühren. Dazu wurden gewisse Formeln gesprochen. Nun sollte Gott ein Zeichen tun; die Wunden sollten zu zittern oder gar zu bluten anfangen, und der Tote sollte seine Gesichtsfarbe ändern. Geschah das alles nicht, so war die Unschuld erwiesen.

Picture: Gräplang Castle, 2021

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