198. The Treasure Chest at Freudenberg Castle / Die Geldkiste auf Schloss Freudenberg

A young goatherd once spied the baron’s treasure chest peeking through a wide gap in the tower wall.

But a shrill whistle from the forest warned him to quickly return to his herd, which had perhaps broken into the private property of the Allmend.

However, he found everything in order and now hurried to inspect the discovered chest more closely, but searched for it in vain; everything was and remained gone.

Later, he was once again driving his goats up the castle path towards the forest. Then, near the gate, on the side path leading to the castle, a miraculous maiden appeared to him, who said: “I am banished to the castle and beg you to release me. Tomorrow, when you drive the goats past here, I will come down from the castle to the gate in the form of a snake, where you shall kiss me. So that you will be less frightened, I will first appear to you for a moment as a virgin. If you willingly carry out my order, you will redeem me, and not only will no harm come to you, but you will then acquire the treasure which lies hidden in the great chest.”

The boy promised to do his utmost in this case, and the next morning he arrived in time with his flock at the gate of the castle path. The virgin appeared, first in her human form and then as a snake. Now she crawled up the crumbling walls of the castle, tall and miscoloured, and soon came to the entrance, writhing and writhing. There he was to kiss it. It rose high up and stared at him with its diabolically glowing eyes, hissing and tongue flicking constantly.

But the boy stood motionless in terror and could not kiss the snake. Then the maiden stood again and spoke wistfully: “It will now be longer than the duration of a human life until the time comes when I can be redeemed, and my hope rests solely on the human child who will one day receive a place to sleep from that pear tree which a careful man recently planted on the Stutz of Ragaz.

After hearing this, the boy saw neither virgin nor snake, and he hurried to the escaped goats.

I. Natsch.


Die Geldkiste auf Schloss Freudenberg

Ein junger Ziegenhirte erspähte einmal, durch eine weite Spalte der Turmmauer hineinschauend, die Geldkiste des Freiherrn.

Ein gellender Pfiff vom Walde her ermahnte ihn aber, schnell zu seiner Herde zurückzukehren, die vielleicht von der Allmend ins Privatgut eingebrochen war.

Er fand jedoch alles in Ordnung und beeilte sich nun, die entdeckte Kiste näher zu besichtigen, suchte aber vergebens nach ihr; alles war und blieb verschwunden.

Später trieb er seine Ziegen wieder einmal durch den Schlossweg hinauf dem Walde zu. Da erschien ihm beim Gatter, am Seitenpfad, der zum Schlosse führt, eine wunderbare Jungfrau, welche sprach: “Ich bin auf das Schloss gebannt und bitte dich, dass du mich erlösest. Ich werde morgen, wenn du die Ziegen hier vorbeitreibst, in der Gestalt einer Schlange vom Schlosse herabkommen zum Gatter, wo du mich dann küssen sollst. Damit du weniger erschrickst, werde ich dir für einen Augenblick zuerst als Jungfrau erscheinen. Führst du herzhaft meinen Auftrag aus, so wirst du mich erlösen, und es wird dir nicht nur kein Leid geschehen, sondern du wirst dann den Geldschatz erwerben, der in der grossen Kiste verborgen liegt.”

Der Knabe versprach, diesfalls sein Möglichstes zu tun und kam auch des andern Morgens rechtzeitig mit seiner Herde zum Gatter des Burgweges. Schon erschien auch die Jungfrau, zuerst in ihrer menschlichen Gestalt und dann als Schlange. Jetzt kroch sie gross und missfarbig oben am verfallenen Gemäuer der Burg her und kam unter schnellem Winden und Krümmen bald zum Eingang. Da sollte er sie küssen, die sich hoch auflichtete und ihn unter fortwährendem Zischen und Züngeln anstierte mit ihren diabolisch leuchtenden Augen.

Aber der Knabe blieb regungslos stehen vor Schrecken und konnte die Schlange nicht küssen. Da stand die Jungfrau wieder und sprach voll Wehmut: “Länger als die Dauer eines Menschenlebens wird es nun gehen, bis wieder eine Zeit kommt, in der ich erlöst werden kann, und meine Hoffnung stützt sich nur einzig auf das Menschenkind, das einst aus jenem Birnbaum eine Schlafstätte erhält, welchen jüngst ein sorgsamer Mann am Stutz von Ragaz gepflanzt hat.”

Nachdem der Knabe dies vernommen, sah er weder Jungfrau noch Schlange mehr, und er eilte zu den entflohenen Ziegen.
I. Natsch.

Castle Ruin Freudenberg at Ragaz,- plate from Kuoni 1903
a beautiful Swiss woman, holding a treasure chest, standing in a gap in a ruined castle wall, high definition photo, early morning, – Midjourney 6.0

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